Kapitel 42
Rusty, 5. August 2009
»Das Gefängnis schreckt ihn nicht.« Vor langer Zeit, als ich noch Staatsanwalt war, sagten wir das über viele unserer Kunden. Meistens sprachen wir von hartgesottenen Kriminellen - Betrügern, Gangstern, Einbrechern -, die sich mit Verbrechen sozusagen ihre Brötchen verdienten und bei der Aussicht auf eine Freiheitsstrafe ungerührt blieben, entweder weil sie nie über die Zukunft nachgedacht hatten oder weil ein Zwischenstopp im Knast schon lange Teil ihrer zweifelhaften Berufsplanung war.
Der Satz will mir nicht mehr aus dem Kopf, weil ich mir fast unablässig einrede, dass das Gefängnis gar nicht so schlimm ist. Ich habe gestern überlebt. Ich werde heute überleben, und dann morgen. Die Dinge, von denen man annehmen sollte, dass sie besonders bedrohlich sind - die Furcht vor anderen Häftlingen und die berüchtigten Gefahren der Gemeinschaftsdusche -, nehmen in der Psyche einen gewissen Raum ein, aber sie sind weit weniger bedeutend als anderes, das von außen eher banal schien. Man kann unmöglich ermessen, wie sehr man die Gesellschaft anderer Menschen oder die Wärme des natürlichen Tageslichts genießt, bis man ohne beides auskommen muss. Ebenso wenig kann man gänzlich erfassen, wie kostbar persönliche Freiheit ist, bis Dinge, die normalerweise je nach Tageslaune entschieden wurden - wann man aufsteht, wohin man geht, was man anzieht -, restlos von außen bestimmt werden. So absurd es auch klingen mag, das Schlimmste am Gefängnis ist zugleich auch das Offensichtlichste - man kann nicht raus.
Da meine Sicherheit in der Gemeinschaftshaft als zu gefährdet gilt, werde ich in Verwaltungshaft gehalten, was nichts anderes heißt als Einzelhaft. Immer wieder frage ich mich, ob es mir besser ginge, wenn ich das Risiko der Gemeinschaftshaft auf mich nehmen würde. Dann könnte ich immerhin acht Stunden am Tag arbeiten. Die Häftlinge hier sind überwiegend junge Latinos und Schwarze, Gangmitglieder, die wegen irgendwelcher Drogendelikte einsitzen und kein langes Register von Gewalttaten aufweisen. Ob welche darunter sind, die es auf mich abgesehen hätten, kann man nur spekulieren. Von den Wärtern, die sozusagen das Internet der Strafanstalt sind, habe ich bereits gehört, dass hier zwei Männer einsitzen, deren Verurteilung ich bestätigt habe, und ich kann mir ausrechnen, dass ich vor vielen Jahren wahrscheinlich die Väter oder Großväter von einigen anderen angeklagt habe. Insgesamt schließe ich mich der Ansicht des hiesigen Direktors an, der mir riet, mich freiwillig für Einzelhaft zu entscheiden, weil ich zu berühmt bin, um nicht für irgendeinen hoffnungslosen und wütenden jungen Mann ein Symbol zu sein, ein kapitaler Fisch, den er liebend gern an der Angel hätte.
Also sitze ich in einer fünf Quadratmeter großen Zelle mit Zementwänden, mit einer niedrigen stahlverstärkten Tür, durch die ich meine Mahlzeiten bekomme, und mit einer einsamen Glühbirne. Das Fenster ist fünfzehn Zentimeter breit und sechzig Zentimeter hoch und lässt kaum Licht herein. Hier drin kann ich meine Zeit verbringen, wie ich mag. Ich lese alle zwei Tage ein Buch. Stern hat angedeutet, dass ich nach meiner Entlassung möglicherweise Abnehmer für meine Memoiren finden würde, und so schreibe ich jeden Tag ein bisschen, aber wahrscheinlich werde ich die Blätter verbrennen, sobald ich rauskomme. Die Zeitung kommt per Post mit zwei Tagen Verspätung, und gelegentlich sind Artikel über Strafvollzug herausgeschnitten. Ich habe begonnen, Spanisch zu lernen, und übe mit zwei von den Wärtern, die bereit sind, mir zu antworten. Und wie ein Müßiggänger im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert pflege ich eine umfangreiche Korrespondenz. Ich schreibe Nat jeden Tag einen Brief und höre häufig von einigen Menschen aus meinem früheren Leben, deren Loyalität mir enorm viel bedeutet, insbesondere von George Mason und Ray Horgan und einer meiner Nachbarinnen. Außerdem habe ich im letzten Monat Post von gut einem Dutzend hauptsächlich weiblichen Spinnern bekommen, die mir versichern, dass sie an meine Unschuld glauben, und dann über die Ungerechtigkeit jammern, die sie am eigenen Leib erfahren haben, meistens durch irgendeinen korrupten Scheidungsrichter.
Wenn die vier Insassen, die in Verwaltungshaft sitzen, gemeinsam zum einstündigen Hofgang nach draußen dürfen, spüre ich den spontanen Impuls, die drei anderen zu umarmen, um ihn gleich wieder im Keim zu ersticken. Rocky Toranto ist ein Transvestit, HIV-positiv, der in der Gemeinschaftshaft ständig andere Häftlinge anbaggerte. Die beiden anderen, die mich beäugen, während ich durch den Hof trabe und Dehnübungen und Liegestütze mache, sind gemeingefährlich. Manuel Rodegas hat ein Gesicht wie ein zertretener Käfer. Er ist ungefähr einen Meter sechzig groß, und sein Kopf scheint direkt auf den Schultern zu sitzen. Manchmal hat er lichte Momente, aber die meiste Zeit faselt er unsinniges Zeug. Harold Kumbeela ist ein fleischgewordener Albträum, knapp zwei Meter groß, mindestens hundertdreißig Kilo schwer. Als er noch unten untergebracht war, schlug er einen Mann zum Krüppel und brachte einen anderen beinahe um. Eigentlich ist er viel zu gewalttätig für die staatliche Arbeitsfarm. Er ist nur hier, weil das Ministerium für Heimatschutz einige Zellen für illegale Einwanderer angemietet hat, die auf die Abschiebung warten, die in Harolds Fall nicht früh genug erfolgen kann. Zu meinem Pech hat Harold erfahren, dass ich Richter war, und sucht regelmäßig bei mir Rat in Bezug auf seinen Fall. Zu Anfang habe ich mich damit rausgeredet, nichts von Einwanderungsrecht zu verstehen, aber diese Finte brachte mir nur zwei Wochen Schonfrist ein. »Klar, Kumpel«, sagte er vor ein paar Tagen zu mir, »aber, Mensch, Alter, kannst du dich nich was schlaumachen? 'nem Kumpel 'nen Gefallen tun?« Ich habe die Wärter gebeten, Harold im Auge zu behalten, aber das tun sie ohnehin.
Nat kommt mich einmal in der Woche besuchen und bringt jedes Mal einen Stapel Bücher mit, den die Aufseher unter die Lupe nehmen, und die vierzehn Dollar, die ich wöchentlich im Gefängnisladen ausgeben darf. Ich kaufe mir für die gesamte Summe Süßigkeiten, denn egal wie viel Sport ich treibe, das Essen kriege ich kaum runter. Nat und ich sitzen immer an einer kleinen getünchten Version eines Picknicktisches. Da hier die unterste Sicherheitsstufe gilt, darf ich über den Tisch fassen und kurz Nats Hand berühren, und ich darf ihn zur Begrüßung und zum Abschied umarmen. Wir bekommen jeden Sonntag eine Stunde. Als er mich die ersten beiden Male hier sah, weinte er, doch inzwischen genießen wir die gemeinsame Zeit; überwiegend redet er und erzählt mir Neuigkeiten von draußen, von der Arbeit und von der Familie, und die besten Internetwitze der Woche. Den größten Teil der Stunde verbringen wir gut gelaunt, und nur wenn das Gespräch auf die Trappers kommt, die schon wieder mal eine hoffnungslose Saison spielen, werden wir kurz ernst.
Bislang war Nat mein einziger Besucher. Es wäre aus vielerlei Gründen unklug, wenn Anna ihn begleiten würde, und sie wahrt die gleiche Distanz wie fast die ganzen letzten beiden Jahre. Außerdem bin ich nicht gerade darauf erpicht, dass mich noch andere hier sehen. Sonntags, wenn Nat kommt, werde ich von einem Aufseher namens Gregg durch die verschachtelten Gänge geführt, die mich buchstäblich näher ans Licht bringen.
Ich bin daher völlig verblüfft, als die Tür zu meiner Zelle weit aufschwingt und Torrez, einer der Aufseher, die mir beim Spanischlernen helfen, sagt: »Su amigo.« Er tritt beiseite, und Tommy Molto bückt sich leicht, um durch die Tür zu treten. Ich habe ausgestreckt auf meiner Pritsche einen Roman gelesen und setze mich abrupt auf, aber ich weiß nicht, was ich sagen soll. Tommy auch nicht, der nun im Raum steht und sich anscheinend erst jetzt fragt, warum er hier ist.
»Rusty.« Tommy streckt mir eine Hand hin, die ich schüttele. »Hübscher Bart«, sagt er.
Ich habe mir hier einen Bart wachsen lassen, hauptsächlich weil das Rasieren bei dem Licht in meiner Zelle gefährlich ist und weil die Sicherheitsrasierer, die man uns hier gibt, fürchterlich stumpf sind.
»Wie geht es Ihnen?«, fragt Molto.
Ich breite die Arme aus. »Der Wellnessbereich könnte besser sein, aber zumindest gibt's Zimmerservice.«
Er lächelt. Den Witz bringe ich öfter in meinen Briefen.
»Ich bin nicht hier, um mich an Ihrem Elend zu weiden, falls Sie das befürchten«, sagt Molto. »Wir hatten hier eine Besprechung von Gefängnisbeamten und Staatsanwälten aus dem ganzen Staat.«
»Komischer Tagungsort.«
»Keine Journalisten.«
»Aha.«
»Die Justizvollzugsbehörde schlägt vor, einige Insassen zu entlassen, die über fünfundsechzig sind.«
»Weil sie keine Gefahr mehr darstellen?«
»Um Geld zu sparen. Der Staat kann es sich nicht mehr leisten, ihre Gesundheitsversorgung zu finanzieren.«
Ich lächele. Was für eine Welt. Niemand im Strafrechtssystem spricht je über die Kosten des Strafvollzugs. Alle denken, Moral hat keinen Preis.
»Vielleicht hat Harnason ja einen besseren Deal gemacht, als er dachte«, sage ich zu Tommy.
Tommy zuckt die Achseln. »Ich denke, er hat die Wahrheit gesagt.«
»Das denke ich auch. Größtenteils.«
Tommy nickt. Die Zellentür ist noch offen, und Torrez steht direkt davor. Um es sich etwas bequemer zu machen, lehnt sich Tommy in seinem Anzug an die Wand. Ich habe beschlossen, ihm nicht zu sagen, dass sich an der Stelle oft Feuchtigkeit sammelt.
»Jedenfalls«, sagt Tommy, »denken manche Leute, Sie sollten auch als Kandidat für eine vorzeitige Entlassung infrage kommen.«
»Ich? Wer denn, jemand außerhalb meiner Familie?«
»In meinem Büro kursiert anscheinend eine Theorie, dass Sie sich einer Straftat für schuldig bekannt haben, die Sie gar nicht begangen haben.«
»Die Theorie ist ungefähr so gut wie die anderen, die ihr über mich hattet. Die waren alle falsch, und die ist es auch.«
»Tja, ich hab mir gedacht, wo ich schon mal hier bin, schau ich kurz rein und höre, was Sie dazu zu sagen haben. Komischer Zufall, aber vielleicht ist das ja ein Zeichen, dass es mich ausgerechnet hierher verschlagen hat.«
Tommy hatte schon immer etwas von einem katholischen Mystiker an sich. Ich wäge ab, was er gesagt hat. Ich weiß nicht, ob ich gerührt oder erbost sein soll, als mir klar wird, dass Tommy noch immer bereit scheint, meinem Wort zu glauben. Ich kann mir nicht vorstellen, was er über mich denkt. Wahrscheinlich viel Widersprüchliches. Das ist sein Problem.
»Jetzt haben Sie es gehört, Tom. Woher stammt denn eigentlich diese Theorie bei Ihnen im Büro?«
»Ich bin gestern zufällig Milo Gorvetich begegnet, und der hat etwas wiederholt, was andere gesagt haben. Ich hab's zuerst nicht richtig verstanden, aber mitten in der Nacht ist es mir aufgegangen, und es hat mir keine Ruhe gelassen.«
Tommy schaut sich um, dann schiebt er den Kopf zur Tür hinaus und bittet Torrez um einen Stuhl. Es dauert eine Minute, bis der Aufseher mit einer Plastikkiste aufwarten kann. Ich hatte überlegt, Molto das brillenlose Edelstahlklosett anzubieten, aber Tommy ist zu korrekt, um darüber zu lachen. Und sehr bequem ist es auch nicht.
»Etwas hat Ihnen mitten in der Nacht keine Ruhe gelassen«, rufe ich ihm in Erinnerung, als er Platz genommen hat.
»Was mir keine Ruhe lässt, ist die Tatsache, dass ich einen Sohn habe. Und in etwa sechs Monaten werde ich noch einen haben.«
Ich gratuliere ihm. »Sie geben mir Hoffnung, Tommy.«
»Wie das?«
»Im fortgeschrittenen Alter noch mal neu anfangen? Bei Ihnen scheint das zu klappen. Vielleicht erlebe ich ja auch noch etwas Gutes, wenn ich hier rauskomme.«
»Das hoffe ich, Rusty. Der Glaube macht alles möglich, wenn ich das so sagen darf.«
Ich bin sicher, dass das keine Lösung für mich ist, aber ich nehme den Rat als gut gemeint hin, und das sage ich Tommy auch. Danach tritt Schweigen ein.
»Jedenfalls«, sagt Molto schließlich, »wenn mir jemand sagen würde, ich müsste zwei Jahre im Knast verbringen, um das Leben meiner Söhne zu retten, würde ich das tun, ohne mit der Wimper zu zucken.«
»Bravo.«
»Wenn ich also überzeugt gewesen wäre, dass ein Mensch, den ich liebe, auch ohne meine Einwilligung an dem Computer rumgefummelt hat, hätte ich mich vielleicht in mein Schwert gestürzt und mich schuldig bekannt, bloß um die Sache zu beenden.«
»Richtig. Aber dann wäre ich unschuldig, und ich habe Ihnen ja gesagt, dass ich schuldig bin.«
»Das behaupten Sie.«
»Finden Sie das nicht ein bisschen absurd? Seit über zwanzig Jahren sage ich Ihnen, dass ich kein Mörder bin, und Sie glauben mir nicht. Dann finden Sie endlich eine Straftat, die ich begangen habe, und wenn ich sie gestehe, akzeptieren Sie das auch nicht.«
Molto lächelt. »Ich mach Ihnen einen Vorschlag. Weil Sie ja so ein ehrlicher Bursche sind. Sie erklären mir einfach ganz genau, wie Sie den Computer manipuliert haben. Nur unter uns. Sie haben mein Wort, dass niemand je deswegen angeklagt wird. Ich verspreche, dass alles, was Sie sagen, streng vertraulich bleibt. Erklären Sie es mir einfach.«
»Tut mir leid, Tom. Wir haben eine Absprache getroffen. Ich habe gesagt, ich werde keine Fragen beantworten. Und dabei bleibt es.«
»Wollen Sie es schriftlich haben? Haben Sie einen Stift? Ich schreib es Ihnen auf. Reißen Sie einfach eine leere Seite aus einem von Ihren Büchern.« Er zeigt auf den Stapel auf meinem schmalen Regalbrett. »>Ich, Tommy Molto, Oberstaatsanwalt von Kindle County, verspreche, dass im Zusammenhang mit Rusty Sabichs PC keinerlei Anklagen mehr erhoben werden und dass ich sämtliche mir zur Verfügung gestellten Informationen streng vertraulich behandeln werde.< Denken Sie, dass ich so ein Versprechen nicht halten kann?«
»Wahrscheinlich nicht, ehrlich gesagt. Aber darum geht es auch nicht.«
»Nur Sie und ich, Rusty. Sagen Sie mir, was passiert ist. Dann kann ich die ganze Sache endlich auf sich beruhen lassen.«
»Denken Sie wirklich, Sie würden mir glauben, Tommy?«
»Weiß der Himmel, warum, aber ja. Ich weiß nicht, ob Sie ein Soziopath sind oder nicht, aber ich würde mich nicht wundern, wenn Sie bislang nicht gelogen haben, Rusty. Zumindest nicht danach beurteilt, wie Sie die Wahrheit sehen.«
»Zumindest damit haben Sie recht. Okay«, sage ich, »Sie sollen die Wahrheit hören. Ein für alle Mal. Nur unter uns.« Ich stehe vom Bett auf und sehe ihm direkt in die Augen. »Ich habe die Justiz behindert. Und nun lassen Sie's gut sein.«
»Wollen Sie das?«
»Das will ich.«
Molto schüttelt den Kopf und bemerkt auf einmal den feuchten Fleck auf der Schulter seines Jacketts. Er reibt ein paarmal darüber, und als er aufsieht, kann ich ein Lächeln nicht ganz unterdrücken. Seine Augen werden hart. Ich habe den alten wunden Punkt zwischen uns getroffen, Rusty oben, Tommy unten. Durch mich ist er zum Mr Wahrheit-und-Gerechtigkeit geworden, aber wenn wir beide allein sind, kann ich ihn noch immer empfindlich treffen.
»Sie können mich mal, Rusty«, sagt er dann. Er geht zur Tür hinaus, dann kommt er wieder zurück, aber nur, um die Plastikkiste mitzunehmen.